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Dr. Stefan Soltek     Frieder Grindler, Plakat – und das Stück beginnt
Text aus Buch Frieder Grindler

Nachdem die Fotografie sich neben der Zeichnung und Malerei und der Druckgrafik als Medium der abbildenden Wiedergabe nach dem Vorbild der naturgegebenen Erscheinung etabliert hatte, stieß sie in die Gefilde der Imagination vor, einer Bildgebung der technisch ermöglichten Kompositionen abseits des Naturalistischen.

Die surreale Inszenierung, insbesondere die Verfremdung von Körpern durch Montage und Demontage, Applikation oder Dekonstruktion, durch stark kontrastierende Licht Schattenführung setzte die Abbildhaftigkeit im herkömmlichen Sinne außer Kraft und projizierte Bildideen, die Ungeheuerliches und Phantastisches, Traumhaftes und Beängstigendes in Visionen jenseits des realistisch Sichtbaren herausforderten.

Diese zugespitzte Form, das Sichtbare weniger wiederzugeben als vielmehr in Frage zu stellen, musste speziell im fotografischen Bild überraschen, das ja zunächst einmal als gesteigerte Möglichkeit zur quasi dokumentarischen Spiegelung besondere Eigenständigkeit behaupten konnte. Schritt für Schritt, voran die Bewegungsstudien von Eadweard Muybridge in den 70er/80er Jahren des 19. Jahrhunderts, trat an die Stelle der Reproduktion, wie immer qua Bildausschnitt, Belichtung und technische Steuerung kompositorisch und stilistisch interpretiert, der Gesichtspunkt der Konstruktion und der Reflektion des Mediums an sich.

Wichtige Anstöße in diese Richtung gingen von László Moholy-Nagy aus, insbesondere in der „Vision-in-Motion” – Periode. Ein zusätzlicher Aspekt mit der Erweiterung von Bildinhalt und Bildgenese gilt speziell im Hinblick auf die Verbindung Fotografie und Plakat, wie sie im Werk von Frieder Grindler bestimmend ist. So lehrte Moholy-Nagy „in welcher Art man sich der Fotografie bedienen sollte, um nicht nur den allgemein optisch oder technisch erreichbaren Sehweisen zu folgen, sondern auch ihren psychologischen oder anthropologischen Elementen”. In diesem Sinne legte er Wert auf die „enge inhaltliche Verknüpfung unterschiedlicher Kunstformen und -gattungen etwa unter Einschluss des Dramas der Architektur, der Poesie oder des Films”1. Hierin zieht sich nun allerdings eine direkte Linie zur Fotografie als Ausdrucksmittel im Kontext von Theater und Gesellschaftlichkeit, wie sie der Plakatgestalter Frieder Grindler über Jahrzehnte hinweg entwickelt. Es ist nicht unwesentlich daran zu erinnern, dass ein zentrales „Urbild” der Fotografie in Platons Höhlengleichnis nicht die Abbildung einer naturgegebenen Situation ist, sondern gleichsam eine „Versuchsanordnung”; Menschen arrangiert der Philosoph in einer Höhle sitzend, zum Anblick der Höhlenrückwand gezwungen, auf der sich, dank eines Feuerscheins im Rücken, Gegenstände als Schattenbilder abzeichnen, die hinter einer rückwärtigen Wand vorbei so getragen werden, daß sie eben über deren Rand reichen und so projiziert werden können. Tageslicht fällt vom fernen Höhleneingang aus ein, erst ihm zugewendet – so Platon – wäre eine Erkenntnis des Eigentlichen der Dinge denkbar. Diese geistreiche Unterscheidung von Wirklichkeitsstufen zwischen dem Sein und dem Schein der Dinge setzt also eine zeiträumliche Inszenierung voraus. Diese greift voraus auf entsprechende Verfahrensweisen des Fotografen, vor Betätigen der Kamera für sein Subjet Vorarbeit zu leisten, nämlich ein Vor-Bild zu schaffen, das zur Abbildung kommen und eine entsprechend intendierte Bildlichkeit, ja Bild-Wirklichkeit erzeugen soll. Exemplarisch sind einige Namen zu nennen: Marcel Duchamp, André Masson, Man Ray, Herbert Beyer, Lazlo Moholy-Nagy, und alle sind bezeichnenderweise Künstler zwischen den Medien, zwischen Malerei, Objekt und Fotografie. Die Inanspruchnahme des objet trouvé, malerisch und bildinszenatorisch im Kontext der Gedankengänge des Kubismus, die verwandte Konstituierung des ready mades bedeuten vitale Schritte zu einer künstlerischen Erarbeitung des Subjet. Seine Bedeutung will konzeptionell bedacht, dann kontextuell anberaumt, schließlich im Bild erfasst und „realisiert” sein. Es kann nicht verwundern, dass diese Entwicklung in der bildenden Kunst, theoretisch begleitet insbesondere im Futurismus, viel mehr noch durch Schwitters und Tzara im Dadaismus, durch André Breton im Surrealismus, ihren Niederschlag fand in der Bildwelt, die zum Zweck des Hinweisens auf Sachverhalte im kulturellen, politischen oder auch kommerziellen Leben entstanden.

Dazu sind namentlich El Lissitzky oder Vladimir Sternberg, die Ära der politischen Bildkunst im Russland der 20er/30er Jahre zu zitieren, in Deutschland sind es besonders die Bildfindungen von John Heartfield, die als Zeichen ihrer Zeit von politischer Brisanz und Prägnanz der künstlerischen Aussagekraft zeugen. Seine Fotomontagen haben Vorbildcharakter für die Entwicklung der Fotografie und der Plakatkunst, speziell für deren Ausbildung an der Hochschule für bildende Künste. Übertragen wir diese Feststellung auf Frieder Grindler, bietet sich ein zentrales seiner Werke zur Betrachtung an: Es behandelt die Auseinandersetzungen, die Anfang der 80er Jahre um die Stationierung amerikanischer Pershing II Raketen in der Bundesrepublik Deutschland betrafen. Gedacht als Gegengewicht zu den russischen Mittelstreckenraketen, die auf Ziele in Deutschland und Frankreich gerichtet waren, lösten sie gleichwohl heftigen Protest aus und galten als Speerspitze der Hochrüstung und Heraufbeschwörung einer nuklearen Kriegsführung. Die Großdemonstrationen im Hofgarten der Bonner Universität sind bis heute im Bewusstsein, Zeichen einer in dieser Dringlichkeit und Breite kaum wieder aufgebotenen Willensbekundung deutscher Öffentlichkeit gegen den Krieg. Grindler inszeniert sein Bildplakat in der Montage einer Originalaufnahme der Demonstranten aus der Luft und einem immensen Raketenschatten mitten über der Menschenmenge. Das Schwarzweißbild weckt unweigerlich Erinnerungen an Bilder aus dem Luftkrieg, wie er der deutschen Öffentlichkeit bis heute vor Augen steht. Dokumentar- und Spielfilme, sowie Fotodokumentationen der Weltkriege, aber auch der Atombombentreffer auf Hiroshima und Nagasaki haben das schaurige Mosaik aus dunklen und hellen Flecken, wie es Häuserruinen und Zwischenraum bieten, eingeprägt. Eben diese Struktur ergibt das Luftbild von der Großdemonstration. Unregelmäßig über den Rasen verteilt, als Netz aus mehr und weniger dichten Menschentrauben, lesen sich die dunkeln Punkte wie ein zerbombtes Häusermeer. Die Rakete im Bild bringt diese Assoziation umso direkter hervor. Riesengroß über der versammelten Menschenmenge, kündet der Schatten die Nähe des Geschosses an und ist Symbolzeichen des Todes; wie ein reales Pendant heute zur Bildfiktion des mittelalterlichen Totentanzes, Skelett und einzelner Mittänzer getauscht gegen die Bombe und die Masse der Bedrohten.

Jahre später sollte Hollywood in Independence Day (1966) einen ähnlich effektvollen Schatten der Bedrohung aufziehen lassen. Grindlers Plakat allerdings besticht mit der Einfachheit und Gültigkeit der Bildaussage. Jahre später entsteht das Plakat zu Handke, Der Ritt über den Bodensee. Auch hier ist Verletzung das Thema, wie anders dimensioniert auch immer. Wieder ein Schatten, wieder ein weiter Untergrund. Hier die „Wasser”fläche, eingestochen von einer Stecknadel. Ihr roter Kopf und ihr Schlagschatten lösen beim Betrachter Schmerz aus. Wie weit auseinander die Anlässe, wie unterschiedlich auch ansonsten, verbinden die Plakate Momente der Fähigkeit des Gestalters, die Bildfläche zum Denkmal, zum „spür mal!” aufzuladen.

Bildfläche, Bühnenraum, Handlungsstätte: Theater. Die Geschichte der bildlichen Verifizierung wesentlicher Aussageinhalte, ausgelesen aus dem Spektrum der Vielgestaltigkeit, reicht weit zurück. Charakteristisch die Renaissance, die mit den Emblembüchern aufgezeigt hat, wie moralische oder historische und mythische Gegebenheiten in ein konzises Bild-Textgefüge verschmolzen werden kann. Im 18. Jahrhundert folgte die Art der Guckkästen, auf deren Rechteckfläche die Lichtstrahlen gebündelt und perspektivisch Ausschnitte des realen Panoramas fokussiert wurden. Von diesen Vorläufern hat das moderne Fotoplakat sich befruchten lassen; das Theaterplakat gewann dabei eine Vorreiterrolle.

Wenige haben in Deutschland, gestützt auf einsichtsvolle Regisseure und Intendanten, diesen Zusammenhang so verinnerlicht wie Frieder Grindler. Sein ganzes Plakatleben ist von Szene und Akt, vom Impuls der Autoren und Regisseure geprägt. Er hat dazu beigetragen, das Plakat von der Annonce weg, hin zum ersten und letzten Bild des Stücks zu bewegen. Mitteilungen, wer wann und wo agiert eingeschlossen, zugeordnet. Seine Plakate bleiben erhalten als Zeugnisse der Aufführungskultur, als Embleme der Stücke, die sie aus der Vielzahl ihrer Bilder in das eine des Davor und Danach komprimieren. Grindler bedient sich dabei der Bilderfahrung, die er zwischen Grafik und Fotografie gesammelt hat. Denkt er an das Plakat, denkt er zwangsläufig an die eine Auftrittsfläche, aber nicht notwendigerweise an ein einziges Bildmotiv. Sein vorausschauendes Planen lässt von früh an die Ableitung oder das Miteinander des einen aus dem anderen, des einen mit dem anderen Bild zu. Wie in drei Schritten aus dem reaktionären Machthaber die revolutionären Machthaber werden, veranschaulicht die Trias der entsprechend abgewandelten Büste(n) im Plakat zu Camus Die Gerechten.

Gut 10 Jahre später greift Grindler die Dreifachstufung auf. Den Theatersommer 1981 in Stuttgart verfolgt er in drei Bühnenfenstern. Sie geben den Blick frei auf stahlblauen Himmel, zu drei verschiedenen Zeitpunkten, wie die durchziehende, erst ganz, dann schließlich kaum mehr zu sehende Wolke ermessen lässt. Sehr schön wie diese dreiteilige Zeitfensterfolge gegenläufig zur Leserichtung des vierblockigen Textbandes das Theatergeschehen „zeitörtlich” fokussiert.

Eine weitere Variante der Bild+Bild-Strategie ist das paritätische Teilen der Plakatfläche für zwei gleichgewichtige Bilder. So für Der Jüngste Tag. Die Stillstellung der Zeit an diesem denkbar einzigartigen Tag erweist sich im Gegenüber der stupenden Straßenszene „vor Ort” des Theaterstücks und provoziert damit die potentiell hierundjetzt dem Weltende ausgesetzte Bevölkerung im Theaterort Mannheim. Inhaltlich harmloser, optisch aber kraftvoll vergleicht sich das Jahre später entstandene Plakat Hin Schauen; wunderbar präsent in den unmittelbar vor die Kamera gehaltenen Lachmäuler vergnügter Besucherinnen. Leicht versetzt, eins gelb, eins blau koloriert, bringt das Nebeneinander der fast gleichen Gesichter gestaffelte Augenblicke und Tempo ins Ges(ch)ehen. Ein meisterhaftes Verfügen von Bild und Buchstaben ergänzt die Dynamik. Wiederum zeigt der Vergleich mit viel neueren Arbeiten für das Theaterfestival auf der Expo 2000 das Festhalten am Teilen der Bildfläche, wobei die klare Grunddisposition von untere Hälfte Typo auf pink Untergrund und obere Hälfte jeweils zwei Bildmotive deren höchst freie Auswahl nach Sujet und Technik (Grafik, Foto) erlaubt, ohne dass die Einheit des Plakatganzen verloren ginge. In diesen Arbeiten ist kühl kalkuliert, was Jahre zuvor zum Herzog Theodor von Gotland, 1994, im Sinne der Tragödie als vehementer Riss durch den Vorhang gewagt ist. Bild, noch ein Bild – auch für die Spielzeit 2000/1 findet Grindler dafür eine Lösung und zeigt seine Vorliebe für dieses Nebeneinander auf. Im nunmehr gewählten Übereinander der Bilder, von Textstreifen unterlegt greift er nicht nur auf Der Jüngste Tag zurück, sondern bestätigt die kreative Weiterentwicklung des Mittels, wie es sein Lehrer Hans Hillmann treffsicher in das Filmplakat eingeführt hatte. Das Plakat als Ausschnitt des Filmstreifens – eine, wie Grindler variantenreich demonstriert, bis heute bestechende Komposition.

Vermittelt über die Arbeit zum Stück Gesäubert – drei Bewegungsfiguren sind voreinander montiert, vom groß hinterliegenden Schatten über den ekstatisch Ausschreitenden bis zum klein in die Ecke gestellten in sich Gekehrten – öffnet sich der Blick für eine weitere Montageart: Das Bild im Bild. Dabei geht es nicht um das Additive des Nebeneinanders, sondern um Verfremdung durch Ineinssetzung von Mehrerem. Dies kann ganz homogen einunddasselbe sein, die Ineinanderstaffelung eines Mauerfotos zu Fidelio, um die Gefangenschaft zu insinuieren, das kann aber auch Unterschiedliches sein. In ein Ausgangsmotiv wird ein Ausschnitt eingesetzt, der Gegengewicht und doch Bestandteil des Bildeinen ist. Ob für Elektra, Die siamesischen Zwillinge oder Fluch der verhungernden Klasse, das menschliche Gesicht bietet jedes Mal den Ausgangspunkt des Arrangements, jedes Mal eine andere Lösung, eine optische Falle zu stellen, die den Betrachter unweigerlich in die Betrachtung vertieft. Extrem der Verhungernde. Das ausgemergelte Gesicht eines Mannes füllt das Querformat, die Augen, angeschnitten, nur zu erahnen, verweisen auf den Mund. Genau da ist die Stelle des Eingriffs, greift das zweite Bildelement ein, nämlich: der Mund, aufgerissen, im Schrei gesehen, um so lauter als vom Gestalter schräg und farbig gegen das Gesicht gestellt. Eine hybride Grimasse lässt Hunger hören, sehen, riechen.

Das kompositorische Mittel der Verdopplung des Sujets verstärkt dessen Eingängigkeit. Sie kann einen konkreten Sachverhalt veranschaulichen oder aber primär Zeitverzögerung apostrophieren und damit Verifikation in der Verlangsamung. So liest sich Alte Zeiten als raumgreifende Staffelung einer Büste. Ihre Silhouette im Profil, von Flugrost angegriffen, verkörpert das Temporäre, Vanitas, aber auch Majestät, zwischen den Pyramiden des Cheops und den Präsidentenköpfen des Mount Rushmore (South Dakota). Konkreter Sachverhalt hingegen ist die Konkurrenz zwischen Vormund und Mündel, das als kleine Fingerspitze durch den gewaltigen Berg der Fingerkuppe durchstößt. Dieser Finger im Finger zeigt Grindlers Bereitschaft, Gewaltsames spürbar aber nicht brutal zu pointieren, zumal die Überraschung markanter ist als das Quälende eindeutig. Die menschliche Figur beherrscht die Motivwelt des Plakatgestalters Frieder Grindler. Sie bietet natürlicherweise ein besonders breites Spektrum, die Welt des Theaterstücks zu ermessen, sie stellt sich auch zwingend als erstes Motiv dar, indem sich der Plakatbetrachter zwangsläufig ein, ja selbst findet. Grindler bezieht sich in diesen Prozess ein, wird offensichtlich zum Mittler, zum zweiten Regisseur, nicht auf, sondern abseits der Bühne.

Seine Figuren halten konsequent die Mittelachse. Hier bilden sie den Schwerpunkt, bestechen mit der jeweils eigenen Art, sich zu verfremden, um den Inhalt des Stücks zu akzentuieren.

Eindrucksvoll die Versenkung des Mitmachers in der monumentalen Schraube, die ihn mit sich dreht. Schroffer die Aggressivität, die aus der schrundigen Woyzeck-Figur spricht, passend zum eingekerbten Namenszug. Verfremdung einer ganz anders stilisierten Stillstellung atmet jenes Körperbild, dessen dunkelhäutiges Model von Pingpongbällen übersät ist. In der Inszenierung von Repertoire tanzen die Bälle im Schwarzlicht und erzeugen mit ihrem Aufklackern auf den Holzboden ein Stakkato in Ton und Licht. Eine eigene Gruppe bilden die Plakate mit Sitzfiguren. Grindler erfindet ein reiches Sensorium, die Sitzenden, gleich ob von vorne, hinten oder von der Seite gezeigt, in die Schwebe zwischen situativer Gravität und skuriller Aufhebung derselben zu versetzen. Eine bestimmte Gespanntheit hält die Sitzenden in nur scheinbarer Ruhe, tatsächlich sind sie im Moment angespannt und präsent. Extreme Größenunterschiede zu Figur oder Landschaft des Umraums unterstreichen den Effekt, zu sehen in Der Marquis von Keith und Bernarda Albas Haus. Zudem ist es das ausgeblendete, „umwölkte” Gesicht, das eine gewisse Rätselhaftigkeit, eine Art Nachsuchen für den Betrachter belässt. Das Repertoire der Figuren ergänzen die vielen Arbeiten, die entweder die Hand oder das Gesicht zum Gegenstand einer Sujetbildung machen. Provokant schiebt sich die zum (pseudo) obszönen Gestus geballte Faust aus dem Bild und kontert den Titel „Seid nett zu Mr. Sloane”. Die geöffnete, gerundete und einen Gegenstand umhüllende Hand – verschiedene Plakatkünstler haben das Motiv verwendet – macht Grindler zur Fassung eines Gesichts zu Porgy +Bess. Von seinen Gesichterarrangements dürften die zur Nacht der Puppen und zu Kaspar die bekanntesten sein. Jedes auf seine Weise der Motivgestaltung bestechend, markieren gerade diese Plakate des fokussierten Körpers, des Gesichts- oder des Handkörpers eine spezifische Anmutung, durch die Vorwölbung des Gebildes seine plastische Qualität zu pointieren. Wie zur Kamee aus dem Grund ausgeschält bläht sich das Plakat optisch zum Relief, nicht nur an, sondern über die Oberfläche hinaus und begegnet dem Betrachter in denkbar extremer Nähe. Fesselt den Blick, nicht weil die großen Brillenaugen leer, der Daumen aus den fleischigen Fingern hervorschaut, sondern weil sich ein subtiles Formgebilde „vor”weist. Der minutiös gesteuerte Schwarz-Weiss-Kontrast unterlegt die Wirkung effektvoll.

Kopf und Hand, vielmehr Hände, finden zu einem so einfachen wie suggestiv starken Charakter zusammen, um die Figur des Othello zu beleuchten. Verschobene Filme der Grundtöne Magenta, Cyan, Yellow, und Schwarz lassen die Haltung des Kopfes zwischen den Händen gestützt zu einer vibrierenden Geste größter Anspannung werden. Typographie schiebt sich gerade bei dieser Arbeit in den Blick, die abnehmende Größe der Versalien unterstützt das Bewegungsmotiv der Kopffigur. Von den frühen Plakaten an weist Grindler der Schriftgestaltung eine durchaus bestimmte, jedoch stille, zugeordnete Rolle zu. Sie hat Auftakt-, Prolog- oder – grafisch gesprochen – beinahe umspielend marginale Funktion.

Sicher spielt auch bis heute auf das Ganze des Werks gesehen die Gestaltung der Schrift und ihre Absolutsetzung zum Sprach-Bild-Zeichen keine erste Rolle. Und doch fallen einige Arbeiten in diesem Sinne auf und belegen Grindlers Suche nach Grenzfeldern. Der Fortgang der Technologie und das Fortschreiten mit ihnen deutet der Vergleich des Programmplakats für das Darmstädter Theater 1975 mit den entsprechenden Annoncen für das Stuttgarter Theater rund 30 Jahre später an. Der Schriftduktus – hier Schreibmaschine, dort Computersatz – bedingt eine Versachlichung ebenso wie der Farbkanon. Dabei hält – nicht selbstverständlich über den langen Zeitraum betrachtet – die Machart im akzentuierten Wechsel zwischen Spalten und Feld über mehrere Spalten breit das variable Umgehen mit dem Grundraster lebendig.

Doch nicht allein das Organisieren von Mengensatz gelingt dem Gestalter unauffällig gekonnt. Ein reines Typografieplakat kündigt die Farce von George Tabori Mein Kampf an. Wohl abgewogen mischt Grindler Monumentalität (das „M”) und das Zerrspiel der regellos verschmolzenen Buchstaben, in dem das „i” durch die Grußhand Hitlers ersetzt ist. Rot gegen Blau kontrastiert hebt Grindler das Irrwitzige des Führer-Pamphlets und seine Verurteilung durch Tabori ins Bild.

Spotlights setzen Plakate wie ART (Forum Sulzdorf 87), nochmals ART, sechs Jahre später, für eine Ausstellung im (eigenen) Fachbereich Gestaltung der Hochschule Würzburg, und ähnlich im freien Figurenspiel mit Versalien die Einladung zur Party im Theaterhaus Stuttgart 1989. Alle drei leben von der Disposition der Letter hin zum Rand ihrer unmittelbaren Wortfunktion. Noch deutlich weiter geht die vielleicht schönste Arbeit, für die Musikhochschultage 1992. Über dem schwarzen Fond schlängelt sich rotgleissend eine Lichtspur gleichsam im Takt der Töne.

„Das Licht dringt ohne Lärm vor”, zitierte Karl Krolow den Lyriker Pierre Reverdy in einem Essay-Abschnitt, den er titelte „Mit Licht schreiben”. Der beste Stil, so Reverdy, spreche mit leiser Sprache – Grindler folgt dem auf wunderbar spielerische Art. An den Bogen eines Violinisten montiert er die kleine Birne einer Spielzeugeisenbahn, die, derart überraschend in Bewegung versetzt, zur sichtbaren Tonspur mutiert. Und wie eine Oberton-Stimme legt sich die begleitende Textschrift mit ihrem blauen Fluss aus Lettern und Ziffern darüber.

Zwei Auftraggeber geben Gelegenheit, Frieder Grindler über das Spektrum seiner Gestaltungskriterien gesehen, zusammenfassend zu würdigen. Der eine ist das Schauspiel in Stuttgart. Im Verlauf der 90er Jahre ist bis heute ein umfangreiches Plakat- und Programmbuchwerk entstanden. In ihm knüpft er verschiedene Gestaltungsmerkmale seines Schaffens an und überträgt sie in ein farblich intensives lebendiges Variationsspiel.

Einer gleichermaßen rand- wie temperamentvollen Wandzeitung fügen sich die Programmübersichten ein. Mit großer Beweglichkeit flicht Grindler in die Textstränge über einem Grundraster Fotografie und Farbe, streifen- oder felderweise ein. Dabei werden verschiedenste Register gezogen, um die Gestaltungselemente vor- und hintereinander zu legen, oder kontrastreich gegeneinander Akzente zu setzen. Der grundsätzlich vierspaltige Aufbau kann sich stellenweise zum Fenster öffnen, hier kompakter, da weiter werden, ohne den Zusammenhalt zu verlieren. Als wesentliches Kennzeichen des Zusammenhalts operiert jener zum Eckstück gewandelte rote Keil (El Lissitzky). Schlaglicht oder trompe l’euil, fängt er den Blick, bietet markant die Gewissheit, wo und wann sich der Vorhang zur eigentlichen Spielschau öffnet. Ein zweites Signet setzt die schemenhafte Gewandfigur mit erhobenem rechten Arm. Gruß und Aufmerksamkeit, Präsenz ohne Schwergewicht, umspielt die Figur den antiken Gestus des Imperators und Schauspielers.

Nicht zum Etikett stilisiert, sondern „live” aggieren die Figuren in der „Bewegungs-Studie”, zu der Grindler die Gesamtheit der Bühnen-Aktiven zum Schnappschuss vor die Kamera gebeten hatte. Die Vielzahl der entsprechenden Fotos reiht er in Register, Filmstreifen und dem archetypischen Mybridge-Arrangement verwandt, zu einem allover-cover, in dem die bald heller, bald dunkler gehaltenen Einzelbilder ein wolkiges Changieren des Lichts über das Bildganze hinweg verursachen. Bewegung, Dynamik, Lichtführung – Theater. Der zweite Auftraggeber und eng vertraut in der Zusammenarbeit mit Frieder Grindler ist das Siebdruckunternehmen Wagner. Die meisten seiner Plakate lässt der Gestalter nicht als Offset- sondern als Siebdruck entstehen und nutzt die besondere Wirkkraft der Farbe und Oberflächenbrillanz des Druckverfahrens aus. Die Siebdruckerei eröffnet Grindler immer wieder die Erkundung von Themen, die sich auf das Medium des Siebs beziehen lassen.

Das leicht verschobene Übereinanderdrucken der einzelnen Farben wird im Sieb ebenso optisch spürbar wie diverse Muster-Motive auf den Siebraster eingehen. Wie mit der Lupe beleuchtet, werden die Untergründe zu Oberflächen gewandelt und das Plakat zur Irritationsfläche aktiviert.

Was bleibt am Ende als Aussicht auf die kommenden Entwicklungen? Soviel ist evident: In einer endgültigen Verstehensweise des Plakats als dieser oder jener Machart und Wirkweise zugewiesen ist Frieder Grindler nicht erstarrt. Im Gegenteil macht er eine permanente Weitersuche nach neuen Facetten deutlich. So fallen zuletzt zwei Blätter auf, in denen das Foto zum Hintergrund und eine typografische Ovalform als motivisch dominante Eigenform, wie ein Aufkleber, appliziert wird. Der alte Hans Leistikow mit seinen ähnlich aufmontierten Schriftstreifen klingt an, und Grindler bekundet neue Inspiration an der Quelle. Diesen Prozess wird er absehbar noch verschiedentlich wiederholen. Das Stück erwartet seine nächsten Akte.

1 Ursula Czartoryska, „Diachronie und Synchronie in der Kunst als Fotografie”, in F. M. Neusüss, Fotografie als Kunst; Kunst als Fotografie (Köln 1979), p. 320.

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Otto Paul Burkhardt Frieder Grindler oder Das leuchtende Dreieck
Text aus Buch 12 Jahre Rote Ecke

Er ist der Erfinder der „Roten Ecke”: Das Logo des Stuttgarter Staatsschauspiels stammt aus seiner Werkstatt. Den Begriff „corporate identity” findet er in diesem Zusammenhang nicht unbedingt glücklich. Das klingt zu sehr nach „Uniformität”. „Gemeinsames Erscheinungsbild” trifft es da schon besser. Frieder Grindler sorgt seit Beginn der Ära Schirmer für die wiedererkennbare Optik am Schauspiel. In allen Publikationen des Hauses tauchen regelmäßig bestimmte „Spielmomente“ auf: die „Rote Ecke”, das „Winkemännchen” und eine Fülle von Sgraffiti-Figuren. Die „Rote Ecke”, das leuchtende Dreieck, spielt vieldeutig mit Kunstgeschichte und Lesepraxis: Einerseits erinnert sie an El Lissitzkys roten Keil, jener historischen Chiffre für Wende- und Aufbruchzeiten, andrerseits erinnert sie an das sogenannte „Eselsohr” – und damit ans Markieren und Knicken von Seiten zum Wiederfinden von Merk-Stellen in einem Buch. Vorformen seines späteren „Winkemännchens”, erzählt Grindler, seien ihm irgendwann einmal in Florenz aufgefallen – als Grüßfiguren auf Hauswänden. Zusammen mit den vielfältigen Sgraffiti-Figuren – etwa dem Gitarristen-Logo der Rocknächte – ergab sich so ein „Modulsystem” wiederkehrender optischer Signale. Kurz, eine Art „typographische Unruhe”, die gut zu Friedrich Schirmers theatralischer Vielfalt passt. Und jeder, der die Programmhefte des Stuttgarter Schauspiels sammelt, weiß: Aneinandergereiht ergeben die Buchrücken so etwas wie ein breites rotes Band, gleichsam einen „roten Faden“. „Das Konzept ziehen wir jetzt durch”, soll Friedrich Schirmer damals, vor zwölf Jahren, bei der Planung gesagt haben. Und seither schätzt Grindler am Stuttgarter Schauspielchef auch dessen „wunderbare Sturheit”.

Angefangen hat Grindler in den 60ern am Zimmertheater Tübingen. Dort war er unter dem Intendanten Salvatore Poddine (der zudem im Stuttgarter Staatsballett tanzte) für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Grindler avancierte bald zu einem der wichtigsten Gestalter einer neuen Generation von Theaterplakaten. Nicht nur die Zuschauer optisch anlocken, sondern auch eine eigenständige Bildidee, eine eigenwillige Bildfindung zum jeweiligen Bühnenstück kreieren: So lautete das Credo dieser neuen Theaterplakat-Ästhetik. Weg von der puren Anzeige, hin zum Sinnbild, zum Emblem. Fotografie und Plakatdesign gingen eine neue Verbindung ein. Und die Bildfindungen stießen jenseits des Naturalistischen in Bereiche des Phantastischen, Surrealen, Visionären vor. Grindler arbeitete unter anderem für die Stuttgarter Schauspieldirektoren Peter Palitzsch und Hansgünther Heyme. Er gestaltete die Posters für Palitzschs „Marija”, Heymes „Don Carlos” und unzählige andere Inszenierungen, auch für Düsseldorf, Dortmund, Darmstadt, Mannheim und Karlsruhe. Viele Motive wollten Denkanstöße geben und lösten seinerzeit Kontroversen aus – das Plakat wurde zum „Anschlag” auf Denk- und Sehgewohnheiten. Theater, sagt Grindler, sei für ihn dann am spannendsten, „wenn’s an die Grenzen geht”. Und ein Plakat, so Franz Mon, „ist eine Fläche, die ins Auge springt“. Zum großen Krefelder Appell („Keine Atomraketen” 1981) mündete derlei konzeptuelle Gestaltungskunst in ein apokalyptisches Panorama-Bild: das Luftbild einer Menschenmenge, über der ein unheilvoller Schatten schwebt – die Silhouette einer Bombe.

Bei den Theaterplakaten steht stets ein eigenständiger Bildgedanke im Zentrum, unabhängig vom jeweiligen Regiekonzept: in Grindlers Tübinger Zeit etwa der kleine Daumen, der vorwitzig aus dem großen herauswächst (zu Handkes „Das Mündel will Vormund sein” 1971), der Schuss, der nicht getroffen hat (zu George Taboris „Clowns”- Uraufführung 1972). Dann die Geschichte der Stuttgarter Grindler-Plakate: Zunächst eine unendliche Weite, eine Traumlandschaft, ein ferner Horizont (Spielzeitplakat 1993/94), dann der Riss durch das Menschenbild, der Riss durch die Geschichte, der Riss durch die Schöpfung („Herzog Theodor von Gothland” 1993). Oder später: eine Bild-im-Bild-Montage zu Sarah Kanes „Gesäubert” 1999 – in einer riesigen, schemenhaft wilden Schmerz-Figur verbirgt sich ein kleiner, gebeugter, in sich gekehrter Mensch. Und schließlich: die nackte, auf sich zurückgeworfene, verzweifelte Kreatur, über deren Kopf sich ein Fries aus beklemmenden Bildern ausbreitet, die von Gewalt, Krieg und Tod erzählen, ein Mosaik, das einem visualisierten Albtraum gleicht (Senecas „Thyestes – Der Fluch der Atriden” 2002).

Frieder Grindler (*1941) lehrt als Professor an der FH Würzburg und hat als Graphiker an die 100 Auszeichnungen gewonnen, als deren wichtigste die Goldmedaille bei der Plakatbiennale Warschau und der erste Preis beim Plakat-Grand-Prix im finnischen Lahti zu nennen wären. Auch viele prägende Plattencover stammen aus seiner Ideenwerkstatt, unter anderem für Mood Records (United Jazz & Rock Ensemble, Larry Coryell) und für das renommierte Label ECM (Jan Garbarek, Gary Burton). Doch ein Kernbereich im Grindlerschen Oeuvre ist bis heute das Theaterplakat. Eine der einprägsamsten Bildfindungen ist sicherlich sein Ensemble-Plakat vom Stuttgarter Schauspiel aus dem Jahr 1999: Alle Schauspieler, wie sie gehen, springen, Rad fahren, rennen – links oben die Rote Ecke, ansonsten zeigt das Plakat sämtliche Ensemble-Mitglieder in jeweils dreiteiligen Fotosequenzen. Lauter kleine Filmszenen aneinandergereiht. Lesbar wie eine Buchseite mit vielen Zeilen. Jeder Schauspieler eine Individualität. Und doch ein ganzes Ensemble in Bewegung. So gesehen, ist Grindlers Allover-Cover eintreffsicheres Sinnbild für die Schirmer-Ära.

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Hans Hillmann
Text aus Buch Frieder Grindler

Was mir an den Theaterplakaten von Frieder Grindler schon früh auffiel, war die Deutlichkeit, mit der sie sich als solche zu erkennen gaben. In einer heute weit zurückliegenden Zeit hatten wir, bei einem Treffen der Gruppe „novum”, uns in eine Diskussion darüber verstrickt, was eigentlich ein Filmplakat ausmacht, ob es wohl eher photografisch zu gestalten sei oder welche anderen Eigenschaften es aufweisen sollte, um das Medium Film möglichst signifikant anzudeuten. Wenn man die gleiche Frage jetzt auf das Theaterplakat bezogen stellt, ergibt sich als Antwort das Konzept, auf dem Grindler’s Gestaltung in diesem Medium begründet war: es sind dies die Elemente des Theaters, die diesem besonders zueigen sind, sich jedoch auch sehr für Darstellungen im zweidimensionalen Bereich eignen, wie die Bühne, die Szenen-Abfolge, der Dialog, auch Vorhang und Maske, die er in seinen Entwürfen immer wieder einsetzt und in einer überraschenden Fülle und Variationsbreite abwandelt, um den unterschiedlichsten Richtungen, Themen und Stimmungen des Mediums gerecht zu werden.

Bei einem der frühesten Entwürfe für das Tübinger Zimmertheater „Die Ballade vom Großen Makabren” erscheinen zwei der genannten Elemente gleichsam gebündelt: die im grellen Licht der Bühne plazierten, auf den ersten Blick nahezu gleich erscheinenden Gebilde suggerieren ein Nacheinander von Szenen, wie dies später in den Wolkenbildern des „Stuttgarter Theatersommers 81” fortgesetzt wird und in der stets gleichzeitig und nebeneinander vorgestellten Abfolge der „Hölderin – Plakate” einen Höhepunkt erreicht.

Während die Reihung von Szenen, Film und Schauspiel gemeinsam ist, gehen weitere seiner Visualisierungen von den Elementen aus, die vor allem für das letztere typisch sind. Als Beispiel für die Entwürfe, die auf der Situation des Dialogs basieren, möchte ich hier nennen „Die heimliche Ehe”, „Der Foh im Ohr” und besonders „Die Frau vom Meer”, wo das Motiv des Vorhangs sich mit dem der Dialogsituation verbindet. Am häufigsten tritt das Motiv der Maske auf: es erscheint bei Grindlers Entwurf für „Die Möwe” wie auch bei „Clowens”, „Antigone” und – sehr eindringlich realistisch variiert – im Plakat für das Stück: „Einen Jux will er sich machen”. Während bei „Clowens” Gesicht und Maske miteinander zu verschmelzen scheinen, ist bei „Antigone” die Maske eine mit Farbe aufgetragene zweite Haut, die zu bröckeln beginnt und das Gesicht partiell freigibt. Beim „Gutshof” wirkt das Foto mit den Kränen als ob es nicht in ein Bild, sondern in den Kopf selbst brutal „eingesteckt” wird. Hier, bei einem seiner stärksten und im besten Sinne agressivsten Plakate aus dieser Reihe, gerät die Konfrontation der vorgestellten Gegensätze in ihrer photografischen Direktheit zu einem besonders wirkungsvollen „Anschlag”.

Wenn man darüber hinaus weitere seiner Entwürfe betrachtet, die sich der direkten Zuordnung zu einer der vorgenannten Gruppen entziehen, wie das bei Repertoire und Der zerbrochene Krug der Fall ist, sind es hier Objekte und deren Schatten, die ein Gesicht überlagern, auf seinen Ausdruck einwirken und ihm eine zusätzliche Bedeutung – die des jeweilige Stückes – verleihen.

Ähnlich verhält es sich bei Jenufa und in besonderem, überraschenden Maß bei dem Plakat für Die Berühmten, wo der grelle Schein einer Taschenlampe die Individualität der Gesichtszüge weitgehend auslöscht und durch ein weitaufgerissenes, rotes Hundemaul ersetzt.

Auch bei diesen Beispielen zeigt Grindler uns seine Fähigkeit, im Zuge seiner erstaunlichen Produktivität sein Repertoire mit immer neuen prägnanten Lösungen anzureichern.

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass es auch die Spannung zwischen der nüchteren, medienbezogenen Ebene der Grindlerischen Konzeption und der Vielfalt der von ihm eingesetzten phantastischen und verfremdenden Ideen und Mittel ist, die seiner Arbeit ihre unverwechselbare Qualität verleiht und sie zu einer bewundernswert eindringlichen Darstellung der Darstellenden Künste macht; er zeigt uns Grafiken, die genau der Definition entsprechen, die Franz Mon für den Bildband erfand, in dem Frieder Grindlers Plakate zum ersten mal als Serie einen Auftritt hatten: ein Plakat ist eine Fläche die ins Auge springt.

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Kurt Weidemann
Text aus Buch Frieder Grindler

Hubert Burda – der Medientycoon – bezeichnet die Selbstinszenierung als das Geheimnis des Erfolges. Demnach müsste jeder, der die Kunst beherrscht, von sich selbst einmal absehen zu können, zur Erfolgslosigkeit verdammt sein. Dennoch müsste auch jedwede Dienstleistung, sofern sie mit Hingabe und Leidenschaft erbracht wird, also bewusst auf Selbstinzenierung verzichtet – vom Erfolg ausgeschlossen sein. Dafür aber inneren Frieden gewinnen.

Aufmerksamkeit steht für den Erfolg als Schlüsselwort am Beginn: die Beachtung durch andere. Denn niemand macht sich bewusst selbst etwas vor (gelegentlich allerdings auch mal unbewusst) und setzt sich für sich selbst in Szene: Auch wenn jeder an sich selbst am meisten interessiert ist. Das allein kann allerdings noch kein Erfolgsrezept sein. Wer in selbstverliebter Nabelschau versunken ist, kann in unserer Leistungsgesellschaft nicht erfolgreich sein. Er muss etwas erbringen, was andere wünschen, benötigen, was sie interessiert, neugierig macht, begeistert. Und wenn das bemerkenswert, wenn es überdurchschnittlich oder gar außergewöhnlich ist, dann bedarf es keiner Selbstdarstellung, keiner Inszenierung. Eine zunächst wertfreie Beachtung kann ja in Hochachtung oder Verachtung umschlagen.

Wenn eine Leistung kontinuierlich erbracht wird, sich sogar steigert, wird ihr Anerkennung und manchmal Bewunderung zuteil, ohne sich groß in Szene zu setzen. Eine Inszenierung ist ja nicht die nackte Wirklichkeit, sondern deren Übertreibung, deren Aufbereitung ins Außergewöhnliche.

Ernst Wiechert hat in seinem Buch „Das einfache Leben” eine andere Sicht als Hubert Burda entwickelt; Man kann sich von dieser Welt ohne Groll und Gram zurückziehen sagt er, „wenn man gesehen hat, wie die Heldenväter hinter der Bühne ihre Rettiche essen”. Das heißt doch, dass man Inszenierungen durchschaut hat, dass man sie satt haben kann. Wem die Selbstinszenierung nicht liegt und wer dennoch Erfolg hat und daraus ein gesundes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen entwickelt hat, der muss den Umweg der Selbstdarstellung nicht gehen. Ohne dass ich den Namen Frieder Grindler schon erwähnt habe, habe ich von Anfang an über ihn gesprochen. Er ist nämlich nicht der Selbstdarsteller, der Selbstinzenierer, der Vordrängler und dennoch kein Erfolgloser. Frieder Grindler ist das, was man einmal Gebrauchsgrafiker nannte, der gebrauchsfähige Grafik im Auftrag macht und das auf der ganzen Breite dieses Berufsblides. Vorrangig macht sich das in seinen Plakaten und deren kleineren Geschwistern, im Buchumschlag, der Gestaltung von Periodika, der Schallplattenhülle, dem Filmvorspann bemerkbar.

Plakatgestaltung setzt produktives Sehen und bildnerisches Denken voraus. Vertrautes und Alltägliches wird so behandelt und verwandelt, dass es uns ins Auge fällt, unseren Blick fesselt. Rund 250 Plakate hat er nahezu ausschließlich für diejenigen gemacht, bei denen das Honorar am Bescheidensten und die Ansprüche am Höchsten sind: Für Schauspiel und Oper, für Konzert und Ballett, für Tragödie und Komödie, für Theater, Musik und Fernsehen. Seine Auftraggeber heißen letztlich oder vorrangig Ludwig van Bethoven, Franz Xaver Krötz, Ödön von Horvath, Alfred Döblin, Sam Shepard. Er inszeniert für sie nicht einen ganzen Abend, sondern zwingt unsere Augen für ein paar Lidschläge in den Bann, „worüber man nicht spricht” sagte Oscar Wilde „das ist gar nicht geschehen”. Grindler muss also nicht nur unsere Neugier erwecken, uns zu einem stummen Dialog auffordern sondern sein Appell muss handlungsauslösend sein: ich muss etwas das er ankündigt, sehen, hören, erleben wollen. Wer meint, das muss doch nicht schwer sein, bei der unstillbaren Neugier des Menschen, der soll es einmal versuchen. Das visuelle Trommelfeuer das unseren Augen täglich zugemutet wird macht die Aufmerksamkeitserregung zum Kunststück. Ein Plakat für Pfanniknödel kann ihre Botschaft leichter loswerden als ein Drama über Eifersucht, Macht, Liebe, Toleranz oder Untergang.

Das Volk der Dichter und Denker kennt ihre Dichter und Denker nicht mehr, aber die Mitglieder ihrer Fußballnationalmannschaft. Die Kommunikationsbranche, die Werbeagenturen und Öffentlichkeitsberater kennen auch kaum das halbe Dutzend international gefei-erter Plakatkünstler Deutschlands. Wenn unser Landsmann Friedrich Schiller Recht hat, dass der Mensch nur dort, wo er spielt, wirklich Mensch ist, dann sollten unsere Berufe, bei denen das Spielerische Voraussetzung der Kreativität ist, unsere auf hohem Niveau leidende Nation ein bisschen wachrütteln. Bildlich gesprochen: wir müssen sie aus ihren Hängematten hoch und auf das Trampolin jagen.

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Adrienne Braun
Rede zur Ausstellung „Originale” in Crailsheim, 2005

Wenn Sie je mit einem Werbegrafiker oder dem Artdirector einer Zeitung zu tun haben, sollten sie sich einen Begriff dringend aneignen: Eyecatcher. Man könnte auch Blickfang sagen, aber erstens gelten Anglizismen an sich schon als fortschrittlich, und zweitens ist Eyecatcher präziser, denn in dem Begriff steckt mehr Aggressivität. Hier geht es nicht nur darum, den Betrachter einzufangen wie beim harmlosen Fang-mich-Spiel, sondern ihn wie beim Catchen zu packen, in kräftig die Mangel zu nehmen und ihm gehörig eins auf die Augen zu geben.

Eyecatching ist zur obersten Maxime grafischer Gestaltung geworden. Marktschreierisch kommen die Titelseiten der Zeitungen und Illustrierten daher, die Anzeigen, Buchdeckel und Plakate brüllen uns entgegen: schau her, bleib stehen, geh nicht fort. Natürlich, werden sie jetzt sagen, wozu anders sind zum Beispiel Theaterplakate da, als die Aufmerksamkeit der Passanten zu wecken, als zu verführen, informieren, animieren? Wozu? Die Ausstellung von Frieder Grindler gibt uns die Antwort. Er präsentiert die Originalcollagen seiner Theaterplakate, die von 1965 an entstanden sind. Grindler ist einer der Pioniere des Theaterplakates. Eines Plakates, das nicht mehr für die Litfaßsäule bestimmt war, um schlicht die Vorstellungstermine bekannt zu machen, sondern Grindler entwickelte eine neue Form: das autonome, künstlerisch gestaltete und inhaltsstarke Theaterplakat.

Erinnern wir uns an die sechziger und siebziger Jahre: Es war eine Zeit des Auf- und Umbruchs. Eine hoch politisierte Zeit, in der die Kontroversen auf den Straßen, vor den Werktoren, auf den Marktplätzen ausgetragen wurden, weil die junge Generation auf sich aufmerksam machen wollte und deshalb in die Öffentlichkeit drängte. Frieder Grindler wurde 1966 Art Director beim Fernsehen des Süddeutschen Rundfunks. Zur selben Zeit entdeckte er das Theater – und das Theater ihn. Friedler Grindler begann für das ZimmertheaterTübingen und bald und bis heute auch für das Staatstheater Stuttgart Plakate zu gestalten.

Ich darf noch einmal zurückkommen auf die Frage: Kann ein Plakat eine andere Funktion haben als die, Eyecatcher zu sein? In einer Gesellschaft, in der der Markt zu einer militanten Konkurrenz der Reize zwingt, mögen sich ausschließlich Eyecatcher behaupten können. Vor vierzig Jahren aber waren die visuellen Reize im öffentlichen Raum geringer, sodass ein Plakat den Betrachter nicht krallen und ihm eins aufs Auge geben musste, sondern im Gegenteil mit neugierigen Blicken rechnen durfte. Frieder Grindler wusste dieses Potenzial zu nutzen. Seine Plakate formulieren hochdifferenzierte Aussagen zur Bühnenliteratur. Er illustriert die Theaterstücke nicht, sondern kommentiert sie. Er verdichtet Handlungen und Konflikte und kondensiert sie hin auf einen Moment, auf eine Szene, ein Bild. Deshalb gab es häufig, wie er erzählt, Diskussionen mit den Regisseuren und Dramaturgen, die in einer Abfolge von Bildern denken, die ein Drama in Etappen abrollen lassen, während Grindler nur das eine Plakat zur Verfügung hat.

Die Plakate sind aber keine Tableaus, sind nicht eingefrorene Bewegung wie bei Filmstils, sondern erzählerisch. Es sind Collagen, die Unvereinbares oder Ambivalentes in Zusammenhang bringen, in denen eine Bewegung, eine Entwicklung steckt. Da ist ein Mann, ein Bürgerlicher, aus dessen Schädel die Faust des Protestes durchbricht. Da ist der Geistliche, dessen Äußeres sich wie eine Verkleidung abziehen lässt. Da klemmt eine Person im wahrsten Sinne des Wortes in der Falle, in einer Mausefalle. Grindler erzählt nicht die Handlung nach, sondern visualisiert pointiert eine komplexe Idee, die eine Ahnung gibt von den Konflikten der Protagonisten.

Frieder Grindler kombiniert heterogene Motive, um neue Bedeutungsebenen zu eröffnen. Dabei wird die Realität häufig manipuliert und überlistet. Wie in einem surrealistischen Gemälde kann man bei dem Plakat für „Die Möwe” von Anton Tschechow durch einen Mann hindurch schauen. Zwei Gesichter sind zusammengewachsen zu einer grausigen Doppelkopf-Masse. Dann wieder bricht aus einem Daumen ein weiterer Daumen heraus.

Das sind komplizierte Bildfindungen, die es zu interpretieren gilt. Auf den hier ausgestellten Vorlagen fehlen die Daten und Ttel, aber erstaunlich viele Stücke, die damals auf den Spielplänen standen, sind ohnehin längst in Vergessenheit geraten. Den Plakaten tut das keinen Abbruch, denn sie sind selbst beredt genug: Die Frau auf dem Sessel, die zu Stein geworden ist, der schlecht rasierte Mann, den man auf einem zweiten Foto brüllend sieht – diese Motive sind sich selbst genug, sie besitzen dramatische Spannung und wollen gelesen und gedeutet werden.

Grindler gibt zunächst sinnliche Anreize, die irritieren und mit Sehgewohnheiten brechen. Aber es sind eben keine reinen Eyecatcher, sondern die formale Verfremdung ist stets inhaltlich motiviert. Wenn er die strenge Mutter Bernarda Alba steinern wiedergibt, reflektiert er sehr präzise die familiäre Situation, das entmenschlichende Verhaftetsein in der Tradition in Bernarda Albas Haus.

Auf seinen Theaterplakaten formuliert Frieder Grindler somit eigene künstlerische Botschaften, die theatralische Ereignisse nicht etwa verdoppeln, sondern ergänzen. Die Stücke mögen politisch gewesen sein, die Plakate waren es zunächst nicht – wurden aber häufig als solche gewertet. Allein die Tatsache, dass sich eine gestaltete Botschaft mit Hilfe der Reproduktion aggressiv in den öffentlichen Raum hineindrängte, irritierte. Viele Plakate von Grindler sorgten für Protest, ihm wurden Prozesse angedroht. Motive wurden als obszön gewertet, Tierschützer gingen auf die Barrikaden, einmal fühlte sich ein ganzer Stadtteil von ihm diffamiert.

Frieder Grindlers Plakate wurden somit zu „Anschlägen” auf Denk- und Sehgewohnheiten. Dass sie solche Sprengkraft entwickeln konnten, lag nicht nur daran, dass er den strengen Sittenkodex der Zeit erschütterte. Der eigentliche Grund ist ein anderer: Fotografien besaßen eine ungleich höhere Authentizität als heute. Die meisten von Ihnen haben das Vor-Computer-Zeitalter noch erlebt, aber in einem unauffälligen, kognitiven Prozess haben wir zu akzeptieren gelernt, dass die Realität sich in Bildern manipulieren lässt. Wenn Sie im Fernsehen eine lila Kuh sehen, wird niemand von Ihnen sagen: aber es gibt doch gar keine lila Kühe, sondern Sie erkennen das schaurig-schöne Spiel, das die digitale Bildbearbeitung mit dem Wahren und Realen treibt. Fake heißt das dann. Frieder Grindler hat deshalb gut daran getan, nicht die Plakate auszustellen, sondern die originalen Collagen, die noch Spuren des Herstellungsprozesses aufweisen. Denn ein heutiges Publikum stellt kaum noch die Frage nach der handwerklichen Realisierung und ist nicht mehr in der Lage zu erkennen, welche Problematik hinter einer Produktion steckt, die ohne Computer auskommen muss.

Nach der kreativen Bildfindung begann für Grindler ein hürdenreicher Prozess der Umsetzung, der Erfindergeist und handwerkliches Geschick gleichermaßen erforderte. Um einen Mann einzuschäumen, wie es Grindler für das Plakat von „Der Fisch” für das Tübinger Zimmertheater tat, waren aufwendige Recherchen erforderlich, um überhaupt Schaum zu bekommen, mit dem er sein Modell nicht vergiftet hätte.

Für „Heimarbeit” wollte Grindler eine Hand im Wasserglas zeigen. Heute wirkt es fast unfreiwillig komisch, dass er hierzu den Boden eines Einmachglases wegsprengen musste und ein Loch in den Tisch sägte. Ein Freund steckte schließlich die Hand durchs Loch, und alles musste sehr schnell gehen, damit das Wasser nicht wegfloss oder die Hand abstarb.

Oder nehmen Sie das Plakat „Kaspar”, das neben dem preisgekrönten Beitrag „Keine Atomraketen” eines der berühmtesten Werke von Frieder Grindler geworden ist und inzwischen sogar im MoMa in New York hängt: Einem heutigen Betrachter erscheint es unvorstellbar, mit der Schrift aus der Fläche herauszugehen und sie auf dem plastschen Kopf fortzusetzen – ohne CAD oder Fotoshop.

Frieder Grindler arbeitet heute übrigens auch mit dem Computer. Originale Vorlagen wie die hier ausgestellten gibt es seither nicht mehr. Mit jedem Fortschritt geht eben auch etwas verloren. Der Umgang mit computergenerierten und digital manipulierten Bildern hat uns träge werden lassen – alles scheint machbar, sodass wir aufgehört haben, den Produktionsprozess zu hinterfragen. Deshalb liefert die Ausstellung des Pioniers Frieder Grindler nicht nur einen kulturgeschichtlichen Rückblick auf das Plakat, das ohne den Druck des Marktes noch künstlerische Aussagen formulieren konnte.

Die Ausstellung konfrontiert uns auch mit unserer eigenen Kompetenz bei der Rezeption von Bildern. Vielleicht gelingt es Ihnen heute Abend, sich das Wundern wieder einmal zu erlauben, das Rätseln und Staunen über das von Hand Geschaffene. Alles mag heute machbar sein, gerade deshalb möchte ich Sie jetzt einladen dazu, selbst zu entdecken, wie Frieder Grindler das, was nicht machbar schien, doch sichtbar macht.

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Adrienne Braun
Frieder Grindler Collagen für’s Theater

Frieder Grindler ist einer der Pioniere des deutschen Theaterplakates. Seine Plakate formulieren hochdifferenzierte Aussagen zur Bühnenliteratur. Er illustriert die Theaterstücke nicht, sondern kommentiert sie. Er verdichtet Handlungen und Konflikte und kondensiert sie hin auf einen Moment, auf eine Szene, ein Bild.

Es sind Collagen, die Unvereinbares oder Ambivalentes in Zusammenhang bringen, in denen eine Bewegung, eine Entwicklung steckt.

Frieder Grindler kombiniert heterogene Motive, um neue Bedeutungsebenen zu eröffnen. Dabei wird die Realität häufig manipuliert und überlistet. Das sind komplizierte Bildfindungen, die es zu interpretieren gilt. Auf den hier ausgestellten Vorlagen fehlen die Daten und Titel, aber erstaunlich viele Stücke, die damals auf den Spielplänen standen, sind ohnehin längst in Vergessenheit geraten. Den Plakaten tut das keinen Abbruch, denn sie sind selbst beredt genug. Viele Plakate von Grindler sorgten für Protest, ihm wurden Prozesse angedroht. Motive wurden als obszön gewertet, Tierschützer gingen auf die Barrikaden, einmal fühlte sich ein ganzer Stadtteil von ihm diffamiert.

Frieder Grindlers Plakate wurden somit zu „Anschlägen” auf Denk- und Sehgewohnheiten. Dass sie solche Sprengkraft entwickeln konnten, lag nicht nur daran, dass er den strengen Sittenkodex der Zeit erschütterte. Der eigentliche Grund ist ein anderer: Fotografien besaßen eine ungleich höhere Authentizität als heute. Alle haben das Vor-Computer-Zeitalter noch erlebt, aber in einem unauffälligen, kognitiven Prozess haben wir zu akzeptieren gelernt, dass die Realität sich in Bildern manipulieren lässt. Frieder Grindler stellt in Chaumont seine originalen Collagen aus, die noch Spuren des Herstellungsprozesses aufweisen. Denn ein heutiges Publikum stellt kaum noch die Frage nach der handwerklichen Realisierung und ist nicht mehr in der Lage zu erkennen, welche Problematik hinter einer Produktion steckt, die ohne Computer auskommen muss.

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Bruno Paulot
Vorwort, Buch Frieder Grindler

Als Frieder Grindler mich bat, ein paar Vor-Worte für seine Veröffentlichung zu schreiben, habe ich gerne zugesagt. Ging es doch um nichts anderes, als mich zu einem Werk zu äußern, dessen Entwicklung ich seit fünfundzwanzig Jahren aus nächster Nähe verfolge und sehr schätze. An dieser Stelle sei Frieder gedankt, daß er geduldig hinnahm, daß ich mehrfach den Text angekündigt und immer wieder verschoben habe. Denn so einfach, wie ich mir das gedacht hatte, war das bei weitem nicht: Ich kam seinem Werk einfach nicht bei. Zumindest nicht mit bildnerischen Begriffen. Denn weder finden sich stilistische noch formale Topoi, die ihn kenntlich machen; die dem Betrachter kommunizieren: Dies ist ein Grindler. Gewiß, sein Ideenreichtum und seine formale Sicherheit, die Verweigerung, sich modischen Tendenzen anzupassen und statt dessen das Risiko des Unzeitgemäßen einzugehen – das alles sind Qualitäten, die ihm eigen sind und ihn zu einer namhaften Designerpersönlichkeit gemacht haben, mit bedeutenden Auszeichnungen geehrt. Aber auf den ersten Blick zu erkennen, wie so manche seiner Kollegen, die sich ein Markenzeichen zugelegt haben, ist er nicht. Und doch vermittelt jede seiner Arbeiten dem hinreichend geschulten Blick, dass er der Urheber ist und kein anderer; vergleichbar einem Musiker, der sich durch seinen Klang, seinen ganz persönlichen, unverwechselbaren Ton zu erkennen gibt, ganz gleich, welches Thema er spielt. Das zu dokumentieren ist das Anliegen dieser längst überfälligen Veröffentlichung, die zeigt, dass Frieder Grindler auf hohem Niveau die Szene betreten hat und diesem über Jahrzehnte treu geblieben ist.

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